Globales Atmen

Die Corona-Pandemie verändert unseren Blick auf die Welt.

Prof. Dr. Peter van der Veer ist Direktor der
Abteilung Religiöse Vielfalt am Max-Planck-Institut
zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer
Gesellschaften in Göttingen.
© MPI-MMG, 2019. Foto: die drehen
| benjamin klingebiel

Betrachtet man, wie sich einzelne Menschen oder auch verschiedene Gesellschaften in der Krise verhalten, treten plötzlich erstaunliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zutage. Peter van der Veer, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften befasst sich seit langem mit asiatischen Kulturen. In seinem Essay vergleicht er, wie man in Asien und in der westlichen Welt mit Gesichtsmasken, Toilettenpapier und der Angst vor dem Tod umgeht.

In Indien und China haben Atemtechniken in spirituellen Praktiken wie Yoga und Qi Gong eine lange Geschichte. In der hinduistischen, daoistischen und buddhistischen Tradition ist die Steuerung der Atmung nicht nur von grundlegender Bedeutung für das Leben, sondern auch für das spirituelle Wachstum. Dieser Gedanke findet sich auch in islamischen und christlichen Traditionen wieder. Heute erleben wir, wie die globale Ausbreitung eines Virus unsere Fähigkeit zu Atmen angreift. Keine spirituelle Atemtechnik kann uns helfen, in dieser Krise die Kontrolle über unsere Atmung zu bewahren. Man ist gezwungen, sich Beatmungsapparaten anzuvertrauen, solange man gegen das Virus kämpft.

Das Coronavirus ist ein Angriff auf den Körper, sowohl auf den Körper jedes einzelnen als auch auf den Staatskörper. Die Medien haben vor allem letzteren im Blick. Daher möchte ich hier die Rolle des menschlichen Körpers sowie dessen kulturelle Bedeutung während der Pandemie thematisieren. Plötzlich sind wir uns bewusst, wie häufig wir uns im Gesicht berühren und wie selten wir uns doch die Hände waschen. Auch die für Großstädter typische Erfahrung, dicht gedrängt zusammenzuleben, wandelt sich: Man weicht sich aus und geht auf Distanz zu seinen Mitmenschen. Diese Disziplinierung des Körpers ruft starke Emotionen bei uns hervor, die eine genauere Analyse verdienen.

Besonders aufgefallen sind mir zwei erstaunliche Phänomene: Da ist zum einen das Tragen von Gesichtsmasken. Während Bevölkerungen in Ost- und Südostasien offenbar keinesfalls mit Widerwillen ihr Gesicht bedecken, zeigen sich westliche Gesellschaften sehr skeptisch. In manchen westlichen Ländern dreht sich die Debatte vor allem um scheinbar nüchterne Fragen wie um die Wirksamkeit von Gesichtsmasken, ihre Anwendbarkeit bei Kindern oder Menschen mit Behinderungen oder einfach um ihre Verfügbarkeit.

Die Maske als Sinnbild kollektiven Gehorsams

Hinter diesen rationalen Diskussionen steckt ein latentes Unbehagen gegenüber dem Verbergen unseres Gesichts und, damit verbunden, unserer Individualität. Es gibt Ängste, dass sich die Gesellschaft in eine gesichtslose Masse verwandeln könnte. Das wird verstärkt durch die Befürchtung, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, gerade wenn staatliche Behörden solche Verhaltensrestriktionen anordnen. Die Maske wird so zu einem Sinnbild des kollektiven Gehorsams gegenüber einer äußeren Instanz. Schon früher zeigten sich ähnliche emotionale Reaktionen gegen die Verschleierung muslimischer Frauen und andere islamische Bekleidungsregeln. Gesicht zu zeigen, scheint eine unabdingbare Voraussetzung zu sein für die wahre Teilhabe am Leben in westlichen Gesellschaften.

In Ostasien wird diese Einstellung nicht geteilt. Japan ist in vielerlei Hinsicht Vorreiter der asiatischen Moderne. Infolge der sogenannten Spanischen Grippe in den 1920er-Jahren (die ihren Ursprung in Wirklichkeit in den USA und nicht in Spanien hatte) fand die Gesichtsmaske in Japan allgemeine Akzeptanz. Überhaupt gehen Japaner in der täglichen Hygiene sehr methodisch vor. Regelmäßiges Händewaschen und das Tragen von Handschuhen sind in Japan weit verbreitet. Diese Verhaltensweisen sind auch Ausdruck eines Bürgersinns, der von Rücksicht gegenüber den Mitmenschen geprägt ist.

Chinesen hingegen sagt man nicht gerade nach, dass sie im Alltag großen Wert auf Hygiene legten. So wurden noch bis vor kurzem lebende und frisch geschlachtete Tiere in den vor allem bei älteren Menschen beliebten Märkten auf offener Straße angeboten. Nach den durch SARS 1 und 2 verursachten Pandemien wurden diese Straßenmärkte schnell als Brutstätten für gefährliche Viren identifiziert. Gleichwohl haben sich Gesichtsmasken auch im öffentlichen Leben Chinas durchgesetzt, vor allem als Reaktion auf die zunehmende Luftverschmutzung. Dies gilt auch für andere Länder Südostasiens. Das Gefühl von Gesichtsverlust, das Menschen in den westlichen Ländern beim Tragen einer Maske verspüren, scheint Gesellschaften in Ost- und Südostasien weniger zu stören – gegenläufig zu dem verbreiteten Vorurteil, Asiaten seien darauf bedacht, ihr „Gesicht zu wahren“.

Die Toilette ist der Grenzbereich zwischen Kultur und Natur

Die andere körperbezogene Reaktion auf die virale Bedrohung, die mich beschäftigt, ist die starke Nachfrage nach Toilettenpapier bei Deutschen und Niederländern. Warum wird Toilettenpapier als eine solch absolute Notwendigkeit empfunden? Aus anthropologischer Sicht ist die Toilette der Grenzbereich zwischen Kultur und Natur. Solange man Toilettenpapier hat, bewahrt man seine Würde und kann dem Virus trotzen, das uns so stark daran erinnert, dass wir Teil der Natur sind. Die natürliche Verletzlichkeit des Körpers auf der Toilette erfordert Praktiken, die eine zivilisierte Distanz zur Natur schaffen.

Auch hier lassen sich wiederum deutliche Unterschiede zu asiatischen Gesellschaften beobachten. In vielen Teilen Asiens reinigt man sich lieber mit Wasser; und auch hier sind die Japaner mit ihren spektakulären Toilettensystemen in der gegenwärtigen Kultur führend. Auf indischen Toiletten hingegen findet man oft nur einen kleinen Topf mit Wasser. Die linke Hand wird auf der Toilette benutzt, die rechte beim Essen. Dabei reinigen Angehörige höherer Kasten kaum ihre Toiletten selbst, sondern greifen auf Dienste unterer Kasten zurück. Ein wichtiger Aspekt der sozialen Reformen Gandhis bestand im Aufruf, dass jeder selbst seine Toilette reinigen sollte. Im ländlichen Raum Chinas ist Toilettenpapier rar, während in den chinesischen Städten das Abwassersystem oft damit überfordert ist. Nur in Hong Kong war während der Pandemie eine große Nachfrage nach Toilettenpapier zu beobachten, vielleicht auch um zu zeigen, dass Hong Kong zum westlichen Kulturraum gehört.

Die drastischste körperliche Reaktion auf das Virus ist letztlich der Tod, das Ende der körperlichen Existenz. Hier haben die Gesellschaften Asiens und des Westens etwas gemeinsam. In mehrerlei Hinsicht wird der Tod hier wie dort verleugnet. Er ist ein Thema, das gemieden, das in Krankenhäuser und auf Friedhöfe verlagert wird. Obwohl der Tod alltäglich ist, habe ich es bis dato nicht erlebt, dass jeden Tag die Zahl der Sterbefälle veröffentlicht wird. In Holland fällt mir auf, wie profan die Reaktionen auf die unvermeidliche Sterblichkeit der Menschen ausfallen. Es besteht vor allem die Sorge, mehr noch die Angst, alleine zu sterben, ohne Familie und Freunde; aber ich habe keine religiösen Reaktionen beobachtet. Dabei fallen der Tod und die Trauer um die Toten eigentlich seit jeher in den Bereich der Religionen. Nur mittels wissenschaftlicher Befragungen und teilnehmender Beobachtungen von Betroffenen, können wir herausfinden, wie die Reaktionen in Asien waren. Doch solche Feldforschung ist uns in diesen Zeiten der Abgrenzung nur schwer möglich.

Dieses Essay ist die gekürzte Version des Blogbeitrags „Global Breathing“, der am 24. April 2020 auf der Webseite des Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften erschienen ist. Aus dem Englischen von Eva Völker.

Von Vorgesetzten zu guten Führungskräften

Wer ist – über die formale Funktion hinaus – eine Führungskraft und was zeichnet eine gute Führungskraft aus?

Das bestimmen letztendlich deren Mitarbeitende, so Prof. Jürgen Weibler von der Fernuniversität in Hagen.

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Was macht eine Führungskraft zu einer guten? Was überhaupt ist Führung? „Andere werden durch eigenes, sozial akzeptiertes Verhalten so beeinflusst, dass dies bei ihnen mittelbar oder unmittelbar ein gewünschtes Verhalten bewirkt“, definiert Prof. Dr. Jürgen Weibler, Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalführung und Organisation an der FernUniversität in Hagen. Er ist u.a. Gründungsmitglied des Forscherverbundes GLOBE (Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness). Bei GLOBE geht es um die Attribute und Verhaltensweisen einer herausragenden Führungskraft im interkulturellen Vergleich, aber auch um Führungsstrategien und Führungserfolg.

Eine „Führungskraft“ bezeichnet zunächst eine Person mit einer formalen Führungsfunktion, z.B. als Abteilungsleiterin oder Abteilungsleiter. Was eine gute Führungskraft ist, bestimmen nach Weiblers Auffassung deren Mitarbeitende: Sie entscheiden, ob eine Person überhaupt eine Führungsperson, also eine Führungskraft im wörtlichen Sinne, ist. Erfüllt diese Person die Attribute und Verhaltensweisen gut, die ihre Mitarbeitenden einer Führungskraft zuordnen, ist sie für diese eine gute Führungskraft.

Physische Kraft, analytische Schärfe, Schnelligkeit

Welche Attribute und Verhaltensweisen das sind, hängt von den Umständen ab. Bandenmitglieder erwarten von ihrer Anführerin oder ihrem Anführer Einsatz für die Gruppe mit physischer Kraft. Im Management sind analytische Schärfe und ähnliche Fähigkeiten gefragt. Das kann nicht nur nach Gruppentypen, sondern auch nach Kontexten variieren: Wenn sich Akademikerinnen und Akademiker über verschiedene Theorien austauschen, könnte eine Person an Einfluss gewinnen, die die verschiedenste Argumente sensitiv abwägt, Impulse setzt, einer Diskussion viel Zeit gibt und Abschlusspositionen ohne Widerspruch formuliert. Dagegen wird etwa bei einem Polizeieinsatz mit der Führungskraft handfeste Gefahrenabwehr, Schnelligkeit und Gesetzestreue verbunden.

Auf neue Situationen muss sich jede Führungskraft schnell und flexibel einstellen können. Bei umfassenden Recherchearbeiten mit längerem Zeithorizont wäre die Erwartung des Teams zum Beispiel, zum gegenseitigen Austausch und zu Diskussionen zu ermuntern. Bei einer brandaktuellen Nachrichtenlage würde die Teamführung vielleicht innerhalb kürzester Zeit Ergebnisse fordern: „Leute, ich brauche das in einer halben Stunde!“ und ebenso die Erwartung treffen.

In der Theorie hat jede Gruppe von Geführten – und auch deren einzelne Mitglieder – individuelle Vorstellungen von guter und schlechter Führung. Empirisch ist das anders: „Es gibt durchaus Vorstellungen, die von den allermeisten geteilt werden“, so Weibler. Etwa die Erwartung, dass eine Führungsperson gegenüber allen respektvoll ist oder andere inspirieren kann. „Beim GLOBE-Projekt haben wir weltweit Menschen danach befragt, was nach ihrer Meinung Attribute und Verhaltensweisen einer herausragenden Führungskraft sind. Da gab es Gemeinsamkeiten, z.B. sich auch selbst sehr stark für das Gruppenziel einzusetzen, also Vorbild zu sein. Ein anderes Attribut war Entscheidungsfreude.“ Unbeliebt sind dagegen „Kontrollfreaks“: Die Mitarbeitenden wollen eine gewisse Handlungsfreiheit haben. Erwartet wird weltweit auch, dass Vorgesetzte Erfolge anderer nicht für sich verbuchen und andere materiell nicht ausbeuten. Oft werden Extrovertiertheit und Integrität erwartet, hier und da auch, dass eine Führungsperson groß ist oder aus einer bestimmten höheren sozialen Schicht kommt.

Gerechtigkeit am wichtigsten

Höchste Priorität hat laut empirischen Studien fast immer Gerechtigkeit. Drei Formen sollte man sich, so Weibler, merken:

Zum einen die „prozedurale Form“: Benutzt die Führungskraft zur Beurteilung von Sachverhalten und für die Mitarbeitende betreffende Entscheidungen eine Methodik, die diese nachvollziehen und akzeptieren können?

Bei der zweiten Form, der „Verteilungsgerechtigkeit“, geht es darum, Lob und Anerkennung, aber auch materielle Zuwendungen je nach Kultur beispielsweise gleich oder nach erbrachten Leistungen zu verteilen. Sieht bei den Leistungen die Führungskraft die Beiträge, die jemand für die Gruppe erbringt? Setzt sie das in Relation zu dem, was sie den Einzelnen gibt?

Die dritte Form von Gerechtigkeit ist die „interaktionelle Form“: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Sie fällt als erste ins Gewicht, weil sie allgegenwärtig und unmittelbar ist.
Wird Gerechtigkeit wahrgenommen, sind die Gruppenmitglieder zufriedener und produktiver, es gibt weniger Konflikte. Verhaltensweisen wie besonderes Engagement oder Solidarität, die man nicht per Vertrag einfordern kann, werden gefördert.

Ungerechtigkeit beeinflusst die Atmosphäre in der Gruppe dagegen grundsätzlich negativ. „Ungerechte“ Vorgesetzte erzeugen Frustrationen, diese Schwierigkeiten im Miteinander der Gruppe. Weibler: „Wer frustriert ist, ist selten aufgeschlossen oder gar freundlich und zuvorkommend.“

Die Mitarbeitenden müssen sich also überlegen: Was erwarten wir eigentlich von einer idealen Führungskraft – und zwar in Bezug auf ihre jeweiligen Aufgaben. „Wir sind überwiegend in einem Kulturraum aufwachsen, werden von gleichen Medien beeinflusst. Unsere Sozialisationen sind meisten einigermaßen ähnlich verlaufen“, so Weibler. „Daher erwarten wir ähnlich Merkmale oder Verhaltensweisen auch von einer Führungskraft. Je mehr sie unseren Erwartungen entspricht, desto besser finden wir sie.“

Gewünschte Resultate „provozieren“

Folgt man bestimmten Führungstheorien, können gewünschte Resultate mit einer höheren Wahrscheinlichkeit „provoziert“ werden. Die häufig herangezogene „Transformationale Führungstheorie“ nennt vier Bereiche:
• „Inspirierende Motivation“: Ziele so zu verdeutlichen, dass andere Lust haben, diese zu erreichen; auch schwierigen, manchmal unangenehmen Aufgaben eine interessante Seite abgewinnen zu können.
• „Intellektuelle Stimulierung“: Mitarbeitende zum Nachdenken darüber anregen zu können, wie man etwas einmal anders und besser machen kann; zum Perspektivenwechsel ermuntern.
• „Individueller Blick“: jemanden als Persönlichkeit und nicht nur als Personal sehen, die Person für eine individuelle Ansprache besser kennenlernen; dabei spielen Wünsche, Vorstellungen, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Motive eine große Rolle, aber auch die Lebenssituation: Wenn man weiß, dass sich jemand beweisen will, kann man ihr eine ‚Herausforderung‘ geben. Hat jemand ein großes ‚Anschlussbedürfnis‘, kann die intensive Kommunikation in einem großen Team anregend sein.
• „Persönliches Beispiel“: als Person wirken und überzeugen. Also wie man Probleme angeht, wie man kommuniziert, wie man sich einsetzt, wertorientiert handelt, nicht erratisch herüberkommt und in gewisser Weise als „anregend“ und „vorbildhaft“ wahrgenommen wird. Dazu kann auch die Umsetzung einer verteilten, gar gemeinsam erlebten Führung – die die klassische Trennung (temporär) aufhebt – gehören.

An dieser Vorbild-Funktion setzt auch die Authentizität an: Nehme ich jemanden als authentisch wahr, als eine Person, die weiß, wo sie steht? Die das kommuniziert, was sie denkt und zu dem steht, was sie tut? Ist das der Fall, ist das ein wichtiger Beitrag dafür, als gute Führungskraft wahrgenommen zu werden. Weibler: „Nicht authentisch zu sein wird von anderen meistens schnell erkannt und abgelehnt!“