Dauerhafte Gegenseitigkeit fördert Kooperation

Die Verhaltensstrategie lässt Fehler zu und fördert dadurch die Zusammenarbeit. Das Verständnis von gegenseitiger Kooperation ist ein Schlüsselelement, um zu verstehen, wie Menschen zusammenarbeiten. Ob Freunde, die sich gegenseitig einen Gefallen tun, Tiere, die Nahrung oder Hilfsleistungen austauschen, oder Nationen, die ihre Politik koordinieren – all das sind im Wesentlichen kooperative Interaktionen. Solche Interaktionen setzen voraus, dass Menschen bereit sind, anderen zu helfen, sich aber auch wehren, wenn sie ausgenutzt werden. Doch welche Regeln sorgen dafür, dass die Zusammenarbeit gedeihen kann, ohne ausgenutzt zu werden?

Spieler verfolgen das Ungleichgewicht der Kooperation in ihrer wiederholten Interaktion.
© MPI für Evolutionsbiologie

Um dieser Frage nachzugehen, setzen Charlotte Rossetti und Christian Hilbe vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön zusammen mit Mitarbeitern des Dalian Institute of Technology (China) auf das sogenannte wiederholte Gefangenendilemma. In einem wiederholten Gefangenendilemma stehen zwei Spielende gleichzeitig vor der gleichen Entscheidung: Sie können einen geringen Preis zahlen, um dem anderen Spieler einen finanziellen Vorteil zu verschaffen, oder nichts tun. Im Idealfall würden beide Spielenden „kooperieren“ und diese Kosten zahlen, damit beide den Vorteil erhalten. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass ein Spieler abweicht, die Kosten nicht trägt, und damit den Vorteil, den der andere Spieler ihm gegeben hat, einsteckt. Wie kann man dieses Spiel so spielen, dass Kooperation möglich ist und eigennütziges Verhalten in Schach gehalten wird?

Ein typisches Beispiel dafür, wie man das wiederholte Gefangenendilemma angehen könnte, ist die Strategie Tit-for-Tat („Wie du mir, so ich dir“). Und tatsächlich kann sich in einer Gesellschaft, in der Menschen Tit-for-Tat verwenden, Kooperation entwickeln und gedeihen, aber mit einem großen Nachteil: Wenn Einzelne manchmal Fehler machen, wird die gegenseitige Kooperation instabil. „Tit-for-Tat ist eine nette Faustregel, die leicht umzusetzen ist und sich sehr menschlich anfühlt. Schließlich basiert sie auf dem alten Sprichwort Auge um Auge“, sagt Charlotte Rossetti vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie. „Aber es ist nicht nachsichtig genug und berücksichtigt nicht die Fehler, von denen wir wissen, dass sie beim Menschen nur allzu häufig vorkommen. Wenn ich aus Versehen einen Fehler mache, obwohl ich eigentlich kooperieren wollte, und dann erst wieder kooperiere, wenn du es auch tust, dann sind wir nicht mehr synchron.“

Kumulierte Gegenseitigkeit

Um diese Schwächen zu beheben, haben die Forscher eine alternative Strategie analysiert, die sie „Cumulative Reciprocity“ oder CURE nennen. Personen, die CURE anwenden, behalten das Ungleichgewicht der kooperativen Aktionen innerhalb einer Interaktion im Auge. Das heißt, sie beobachten in jeder Runde, ob beide Spieler in der Vergangenheit gleich oft kooperiert haben, oder ob dieses Verhältnis zu Gunsten des anderen Spielers aus dem Gleichgewicht gerät. Wenn das Ungleichgewicht null oder niedrig genug ist, schlägt die Strategie vor zu kooperieren. Wenn das Ungleichgewicht jedoch zu groß wird, besteht die Gefahr, dass man ausgenutzt wird. In so einem Fall schlägt die Strategie vor auch eigennützig zu handeln.

Der erste Vorteil der Strategie CURE ist ein praktischer. Durch die Berechnung einer einfachen Zahl (das derzeitige Ungleichgewicht) können die Individuen den gesamten Verlauf der Interaktion berücksichtigen, ohne dass sie das Ergebnis jeder Runde im Detail speichern müssen. Das vereinfacht die Berechnungen erheblich und ermöglicht es den Forschern, das Modell umfassend zu analysieren. Zu diesem Zweck hat das Team um Hilbe und Xia die mathematischen Eigenschaften dieser Strategie untersucht und umfangreiche Computersimulationen durchgeführt. Damit testen sie, wie sich Kooperation in verschiedenen Umgebungen entwickelt. Diese Ergebnisse zeigen, dass CURE die Fähigkeit hat, Fairness zu fördern und gleichzeitig Fehler zuzulassen. Es ist auch in der Lage, sich in einer feindlichen Umgebung durchzusetzen. Selbst in einer Population von Egoisten kann also Kooperation entstehen.

Vorhersage menschlichen Verhaltens

Eine weitere Stärke von CURE ist seine Intuitivität und Einfachheit, die es zu einem guten Kandidaten für die Vorhersage von realem menschlichen Verhalten macht. Um diesen Aspekt genauer zu untersuchen, führte Charlotte Rossetti ein Online-Experiment durch, bei dem die Teilnehmenden die Möglichkeit hatten, mit einer anderen Person um einen kleinen Geldbetrag zu spielen. Die Ergebnisse zeigen, dass CURE die Entscheidungen der Teilnehmenden besser erklärt als andere Regeln, besonders dann wenn das Experiment auch menschliche Fehler simuliert. Die Tatsache, dass Menschen manchmal Fehler machen wenn sie mit anderen interagieren, kann sich nachteilig auf die Zusammenarbeit auswirken. Deshalb muss jedes Modell dies berücksichtigen, das das menschliche Verhalten möglichst genau nachbilden will.

Aus der Psychologie weiß man, dass die meisten Menschen in Freundschaften und anderen engen Beziehungen nicht genau Buch führen, wer wem einen Gefallen schuldet. Stattdessen haben sie ein allgemeines Gefühl dafür, ob die Beziehung fair ist oder nicht. CURE verkörpert dieses Verhalten perfekt. Interessanterweise setzt der Ansatz der Forscher nicht voraus, dass Menschen eine solche Strategie bewusst wählen. Strategien wie CURE können sich im Laufe der Zeit ganz natürlich als einfache Faustregeln herausbilden. Diese Faustregeln helfen dann dabei, eine gegenseitige Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Tagung: „Gut Arbeiten?

Perspektiven auf Verantwortung und Gerechtigkeit in Unternehmen“

Universität Freiburg und Arbeitskulturen-Netzwerk der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde laden zum Auftakt einer Tagung zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion am 10.11.2021

Managementakademien bieten Ethikseminare an, Unternehmen verschiedener Branchen werben damit, dass sie mit ihren Produkten einen Beitrag gegen den Klimawandel oder zu einer besseren Gesellschaft leisten. – Das „moralisch Gute“ scheint in Unternehmen so wichtig wie nie zuvor. Doch was bedeutet das Gute für sie im ganz eigenen Wirkungsbereich innerhalb von Unternehmen und in deren Darstellung nach außen? Wie bewerten und realisieren sie dort ethische Ideale?

Unter dem Titel „Gut Arbeiten? Perspektiven auf Verantwortung und Gerechtigkeit in Unternehmen“ diskutieren am 10. November 2021 Vertreter*innen aus Unternehmen, Gewerkschaften, Beratung und Universität das Thema Verantwortung und Gerechtigkeit in Organisationen. Zentrale Aspekte sind zum Beispiel Arbeitsstandards, Einstellungsverfahren, Formen der Außendarstellung, Konflikte und auch historische Entwicklungen.

Diskussionsteilnehmende sind Björn Beckmann (Schwarzwaldmilch), Reiner Geis (verdi), Corinna Kämpfe (Grünhof) sowie weitere Gäste aus Universität und Unternehmensberatung. Organisiert wird das Podium von der Universität Freiburg und dem Arbeitskulturen-Netzwerk der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Die Diskussionsrunde findet im Kollegiengebäude der Universität statt und wird parallel dazu gestreamt; alle Interessierten sind herzlich eingeladen.

Link zum Stream: https://uni-freiburg.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Sessions/List.aspx?folderID=38ef2517-c38a-47f7-9638-adce00b24ce5

Das Podium bildet den Auftakt zur Fachtagung „Morality als Organizational Practice“ (11./12. Nov. 2021, online). Hier diskutieren Kulturwissenschaftler*innen ihre aktuellen Forschungen zum Thema. Interessierte sind auch hierzu herzlich eingeladen.

  • Was: Podiumsdiskussion: „Gut Arbeiten? Perspektiven auf Verantwortung und Gerechtigkeit in Unternehmen“
  • Wann: Mittwoch, 10. Nov. 2021, 18.15 Uhr
  • Wo: Universität Freiburg, Platz der Universität 3, Kollegiengebäude I (KG I), Hörsaal 1098 (3G-Regel) 
  • Online-Teilnahme an der Diskussion über Stream: https://uni-freiburg.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Sessions/List.aspx?folderID=38ef2517-c38a-47f7-9638-adce00b24ce5
  • Online-Teilnahme an der Tagung: Anmeldung: arbeitskulturen@gmail.com, Sie erhalten einen Panopto-Link.

  • Wer: Mit Björn Beckmann (Schwarzwaldmilch Freiburg), Christine Jägle (Personalrat Universität Freiburg), Reiner Geis (verdi-Bezirk Südbaden), Corinna Kämpfe (Grünhof e.V.), Michael Maile (maile & partner / HfWU Nürtingen) und Inga Wilke (Kulturanthropologie Universität Freiburg). Moderation: Sarah May, Stefan Groth.

  • Veranstalter: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsche Gesellschaft für Kulturanthropologie und Volkskunde, Universität Zürich

  • Der Eintritt ist kostenlos.

  • Die Veranstaltungssprache ist in Deutsch.

  • Das ausführliche Tagungsprogramm finden Sie unter: https://organization.dgv-arbeitskulturen.de/

Fehlzeiten-Report 2020

Erlebte Gerechtigkeit am Arbeitsplatz beeinflusst die Gesundheit der Beschäftigten

Beschäftigte, die sich von ihrer Führungskraft gerecht behandelt fühlen, weisen weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. Diejenigen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren Vorgesetzten die besten Noten für Fairness geben, kommen durchschnittlich auf nur 12,7 Arbeits-unfähigkeitstage pro Jahr. Dagegen weist die Gruppe der Berufstätigen, die ihren Chef als eher ungerecht wahrnehmen, im Durchschnitt 15,0 Fehltage auf. Dies ist ein Ergebnis des am Dienstag (29. September 2020) vor-gestellten Fehlzeiten-Reports 2020 des Wissenschaftlichen Instituts der AOKs (WIdO). Dafür wurden 2.500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter von 18 bis 65 Jahren zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz befragt und die Auswirkungen auf die Gesundheit analysiert. „Gefühlte Ungerechtigkeit bringt dabei insbesondere emotionale Irritationen und psychosomatische Beschwerden mit sich“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO und Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports 2020. Nahezu ein Viertel der Beschäftigten, die sich von ihrem Vorgesetzten ungerecht behandelt fühlen, berichtet über Gefühle der Gereiztheit wie Wut und Ärger (23,3 Prozent), rund jeder Fünfte über Lustlosigkeit (21,2 Prozent), Erschöpfung (19,7 Prozent) oder Schlafstörungen (18,1 Prozent). Sogar körperliche Beschwerden wie Rücken- und Gelenkschmerzen (25,8 Prozent) oder Kopfschmerzen (10,2 Prozent) kommen häufiger vor. Im Mittel über alle Beschwerden berichten immerhin 13,0 Prozent dieser Beschäftigten über eine höhere Betroffenheit. Demgegenüber treten diese Beschwerden in der Gruppe, die ihre Führungskraft als fair bewerten, deutlich seltener auf (3,4 Prozent).

Screenshot zur Auswertung.

Schröder: „Die gesundheitlichen Belastungen bei Beschäftigten mit einer als fair empfundenen Führungskraft sind damit nur ein Viertel so hoch wie bei den Beschäftigten mit einer als unfair empfundenen Führungskraft. “Die Befragung zeigt zudem, dass empfundene Fairness des Unternehmens und der Führungskraft mit einer hohen Bindung des Beschäftigten an das Unternehmen einhergeht. Sie fühlen sich im Unternehmen gut aufgehoben, stark verbunden und würden ihr Unternehmen als Arbeitgeber auch weiterempfehlen. „Auch dies ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein wichtiges Ergebnis: Fairen Betrieben gelingt es eher, hochqualifizierte, selbstständig arbeitende, zufriedene und gesunde Beschäftigte auch dauerhaft an das Unternehmen zu binden“, erklärt Schröder. Ob ein Unternehmen als gerecht oder ungerecht eingeschätzt wird, hängt der Studie zufolge vor allem mit der jeweiligen Führungskraft zusammen, die eine zentrale Scharnierfunktion zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitenden darstellt. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, unterstreicht daher deren Bedeutung für Krankenstand und gesunde Unternehmenskultur: „Das Handeln von Führungskräften und ihr Umgang mit Beschäftigten beeinflussen das Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitnehmer und damit auch deren gesundheitliche Verfassung.“ Aufgrund ihrer Schlüsselrolle nimmt die AOK diese Zielgruppe im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) besonders in den Fokus. Litsch: „Bei den Präventionsangeboten aller gesetzlichen Krankenkassen für die mittlere betriebliche Leitungsebene hat die AOK einen Anteil von 71 Prozent.“ Die Studie zeigt auch, dass als gerecht eingestufte Führungskräfte die Bindung der Beschäftigten ans Unternehmen fördern. So sind es eben nicht nur monetäre Aspekte, weshalb Berufstätige ihrem Arbeitsplatz die Treue halten. „Neben der Bewertung einzelner Entscheidungen hat für Beschäftigte auch die gelebte Unternehmenskultur erheblichen Einfluss, was wiederum Folgewirkungen für die Arbeitgeberattraktivität und die Gesundheit hat. Ein erlebtes Wir-Gefühl stärkt daher die Bindungskraft und erhöht das Vertrauen. Dadurch steigt auch die intrinsische Motivation, Herausforderungen und Krisen gemeinsam zu bewältigen“, erklärt Prof. Dr. Bernhard Badura, Gesundheitswissenschaftler der Universität Bielefeld und ebenfalls Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports 2020. Was für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Job also vor allem zählt, sind Anerkennung, Vertrau-en und eine faire Streitkultur.

Auswertung: Fairness mit weniger Beschwerden verbunden.

Doch genau hier haben viele Unternehmen noch Nachholbedarf: Jedem zweiten Beschäftigten (46,4 Prozent) fehlt es derzeit an gerechten Konfliktlösungen. Wertschätzung im Job vermissen 40,8 Prozent. Und auch die Rückendeckung kommt zu kurz: Rund ein Drittel (32,9 Prozent) der Befragten bemängelt, dass das Unternehmen nicht hinter dem Personal steht. Anerkennung und Wertschätzung – Ressourcen, die AOK-Vorstand Litsch auch mit Blick auf die rund 1,6 Millionen Berufstätigen in den Pflegeberufen hervorhebt: „Die Corona-Pandemie hat uns wieder einmal vor Augen geführt, wie wichtig dieser Berufszweig für unsere Gesellschaft ist. Gleichzeitig sind die Menschen in pflegenden Berufen täglich enormen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt, was sich in deutlich höheren Fehlzeiten niederschlägt. Es ist daher unsere Pflicht, diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zukünftig noch stärker zu schützen.“ Gemeinsam mit verschiedenen Universitäten hat die AOK daher ein neues, speziell auf die Pflege abgestimmtes BGM-Konzept namens Care4Care entwickelt. Das Programm wird derzeit in verschiedenen Einrichtungen pilotiert.Der Fehlzeiten-Report 2020, der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld und der Beuth Hochschule für Technik Berlin herausgegeben wird, widmet sich dem Schwerpunkt „Gerechtigkeit und Gesundheit“. In 20 Fachbeiträgen betrachten Experten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. „Führungskräfte tragen Mitverantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Informieren sich Topmanagement und Führungskräfte nicht regelmäßig darüber und über die Qualität der Zusammenarbeit in Form einer gesicherten Dateninfrastruktur, beispielsweise mit Hilfe von Routinedaten, Daten aus Mitarbeiterbefragungen oder internen Audits, fehlen Grundlagen zur glaubwürdigen Identifizierung von Handlungsbedarf und zur Dokumentation erzielter Fortschritte“, hebt Prof. Badura die Bedeutung des diesjährigen Fehlzeiten-Reports hervor.